Revision des Systems

 

Notwendigkeit zur Revision des Systems der Noctuidae.
„Kontroverse: Imaginalsystematik kontra Larvalsystematik“
Entgegnung auf FIBIGER (1997). Akzeptanz des Systems von BECK.

Die ursprüngliche Absicht, nur einen Bildband der Raupen der mitteleuropäischen Noctuidae nebst deren Kurzbeschreibungen und einen Bestimmungsschlüssel auf ornamentaler Basis herauszubringen, erwies sich bezüglich des damals geltenden Systems (Hartig & Heinicke, 1973) als undurchführbar. Zu oft traten Arten einer Gattung an sehr verschiedenen Stellen des Schlüssels (eines nicht publizierten Prototyps, 1984, der zur Erprobung für die Mitarbeiter gedacht war) auf, weil sie eben nicht so nahe verwandt waren, dass sie in die gleiche Gattung gehörten und damit an einer Position hätten eliminiert werden können. So mündete die Arbeit nebst der Ausdehnung auf ganz Europa zwangsläufig in eine Revision des Systems der europäischen Noctuidae. Da die vorliegende Arbeit auf diesem neuen System aufbaute, wurde dieses vorab, 1996, publiziert. Die in dem System erkennbare Aufsplitterung zahlreicher Gattungen wird von vielen bedauert, doch sei daran erinnert, daß dieser Trend in anderen Familien der Lepidoptera schon lange Einzug hielt (Sphingidae, in Seitz, 1913; Nymphalidae, in Forster & Wohlfahrt, 1955, 2. Auflage; Geometridae, Wolf, 1988, bezogen auf Leraut, 1980, nach Herbulot). Ja selbst bei den Noctuidae sind altvertraute Gattungen, wie Mamestra Ochsenheimer, inzwischen in zahlreiche Gattungen zerlegt worden, z. T. unter Revitalisierung von Gattungen des vergangenen Jahrhunderts. Gerade die vorliegenden Untersuchungen zeigen, dass die heutige, genitalmorphologisch einseitige Imaginalsystematik nicht in allen Bereichen ein taxonomischer Fortschritt, sondern oft ein beträchtlicher Rückschritt ist. (Vgl. auch Position 7 der Aussagen - Entgegnung auf Kritiken). So hat Beck (1991) neben der Aufstellung einer Reihe neuer Gattungen und U.-Gattungen auch eine große Zahl der von Hübner, Guenée, Stephens und anderen im vergangenen Jahrhundert vorgeschlagenen Gattungen revitalisiert. Die dadurch entstandene, scheinbare Zerstörung des Verwandtschaftsgefüges wurde durch die Aufstellung von Subtribus mehr als ausgeglichen. Es handelt sich dabei um einen Vorgang, der von Leraut (1980, vgl. Wolf, 1988) für die Geometridae in gleicher Weise praktiziert worden ist und offenbar, imaginalsystematisch, auch bei den Noctuidae zunehmend Eingang findet (Berio, 1980, 1985, 1991; Poole, 1995). Dennoch bestand gerade bei den Noctuidae diesbezüglich ein großer taxonomischer Nachholbedarf.

Zwar ist das in dieser Arbeit vorgestellte, aufgrund des Fehlens der Larven von vielen Arten leider noch lückenhafte, neue System der europäischen Noctuidae sicher nicht dessen endgültige Fassung, aber es ist erstmalig das Resultat der Zusammenschau imaginaler, larvaler, ovaler (u. U. pupaler) und biologischer Fakten und damit ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Natürlichen System der Noctuidae. Die zwischenzeitliche Anerkennung der von Beck bereits 1960 begonnenen Grundlagen durch renommierte Wissenschaftler (Meerzhevskaya, 1967, hat das System von Beck übernommen und neuerdings kommen Lafontaine & Poole, 1991 und Poole, 1995 für die Cuculliinae, zu gleichen Schlüssen) sind ein Indiz, dass das vorliegende Werk für die Larven der europäischen Noctuidae nicht eben nur ein Bestimmungsbuch ist, sondern zugleich ein wichtiger Beitrag für das System der Noctuidae. Die neuen, zahlreichen, taxonomischen Änderungen sind in erster Linie das Ergebnis vergleichender, ornamentaler Studien. Sie wurden z. T., in verkürzter Form, vorab veröffentlicht (Beck, 1991, 1996). Dass diese Ergebnisse richtig sind, geht durch exemplarische, parallele Untersuchungen an Imagines hervor (Berio). Die weitere Absicherung geschah durch umfangreiche, morphologische Untersuchungen des Larven-Materials, was eine erhebliche Verzögerung des Erscheinens der Publikation bedingte, zugleich aber auch das Konzept, nur zwei Bände vorzulegen, zur Änderung zwang.

Die verschiedenen Arbeiten des Autors (Beck 1960, 1989a, b, 1991, 1992, 1996) machen deutlich, dass eine völlig neue Sicht des Systems der Noktuiden trotz der erst jüngst erschienenen „Systematischen Liste der Noctuidae Europas“ von Fibiger & Hacker (1991) überfällig war.

Es ist günstig, dass nun der Band der Noctuinae mit den männlichen und weiblichen Genitalstrukturen vorliegt, zugleich mit dem für Beck „vernichtenden“ Urteil des Verfassers (Fibiger, 1997, III: 22-23), da nun gleich hier auf die unhaltbaren Behauptungen Fibigers geantwortet werden kann. Der Leser hat es nun selbst in der Hand, durch Vergleich zwischen den jetzt vorliegenden, ausführlichen, taxonomischen Begründungen Becks mit den Behauptungen Fibigers, sich ein Bild von der einseitigen und längst überholten Arbeitsweise der gegenwärtig dominierenden, fast ausschließlich genitalmorphologisch orientierten „Imaginalsystematik“ zu machen. Das betrifft in gleicher Weise die Arbeiten Hackers (1996, in Esperiana 5: 610-656), mit der Synonymisierung von Hadena (Luteohadena Beck) mit Conisania Hampson sowie von Aneda Sukhareva mit Sideridis Hübner. Dem steht die progressive Haltung Pooles (1995), mit der höheren Klassifizierung der Cuculliinae, gegenüber.

Auf der einen Seite ist die neue Arbeit Fibigers außerordentlich verdienstvoll, weil sie Material liefert, das in dieser Weise bisher nicht zur Verfügung stand und damit Gelegenheit gibt, die von ihm nicht gewagten und weitere taxonomische Änderungen unverzüglich in Angriff zu nehmen. Auf der anderen Seite zeigt sie aber auch, wie aufgrund einer einseitigen Arbeitsmethode nicht nur eine Fehleinschätzung der Ergebnisse anderer Forscher mit anderen Arbeitsmethoden entsteht, sondern wie sich, in der Euphorie des eigenen Spezialistentums, eine Blindheit für die stets notwendige Zusammenschau aller zur Verfügung stehenden Fakten breit macht, die ihrerseits einen wissenschaftlichen Stillstand, ja Rückschritt bewirkt. In vielen Bereichen der Differenzierung des Systems der Noctuidae war nämlich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, etwa durch die alleinige Berücksichtigung des oft so unterschiedlichen Habitus der Imago, ein Niveau erreicht worden, das heute erst mühsam wieder erkämpft werden muss [vgl. die Differenzierung von Noctua Linnaeus durch Hübner (1821) und durch Beck, Kobes & Ahola (1993) mit derjenigen bei Fibiger & Hacker (1991) sowie bei Fibiger (1997); vgl. auch die Differenzierung bei Xestia Hübner sensu lato]. So ist Fibiger nicht fähig, die allein imaginalhabituell gravierenden Differenzen zwischen Actebia praecox und Dissimactebia fennica (vgl. Fibiger, 1990, I: Tafel 13, Fig. 38, 39) zu erkennen und zu würdigen (d. h. auch bei der genitalmorphologischen Analyse mit der gebotenen Umsicht vorzugehen, um jene Differenzen zu erkennen und einzubringen, wie dies nun Beck aufgrund der imaginalmorph. Figuren Fibigers, 1997: III: 122, 123, nachgeholt hat). Was nützt es, wenn ein „Wissenschaftler“ allein fähig ist, „gute“ Genitalpräparate anzufertigen, auf dieser Basis neue Arten aufzustellen und darüber hinaus nicht in der Lage ist, dem großen Anspruch des von ihm herausgegebenen Werkes „Noctuidae Europaeae“ gerecht zu werden und die auf der Hand liegenden Differenzen zu nutzen, um endlich ein System der Noctuinae sensu Fibiger (und der Noctuidae überhaupt) zu gestalten, das modernen Anforderungen genügt.

Die mannigfachen Darlegungen Fibigers (1997, III) von Artengruppen der Gattungen der „Noctuinae“ sensu Fibiger an den „Stellen“ des Systems, wo Beck (1991, 1993, 1996) bereits auf Gattungen und Untergattungen erkannte, darüber hinaus aber die noch weitergehenden Differenzierungen Fibigers (etwa bei Rhyacia Hübner sensu Fibiger), die entweder mangels larvalen Materials oder, weil larval entsprechende Differenzen nicht (ohne weiteres) erkennbar waren, von Beck nicht vollzogen werden konnten, belegen, dass die systematisch-taxonomischen Änderungen Becks zu Recht bestehen. Über den hierarchischen Rang der erkannten Gruppen lässt sich immer streiten, da sie allein dem subjektiven Urteil unterliegen. Somit ist die „Übereinstimmung“ der larval-systematischen Ergebnisse Becks (1996) mit den genital-morphologischen Ergebnissen Fibigers ein Beweis für die Richtigkeit und Effizienz der Methoden Becks, zugleich aber auch der Beweis, daß die derzeitige, imaginalsystematische Missachtung unterschiedlicher Größe und Ornamentik der Imagines eine grobe Unterlassung darstellt. Insgesamt ist es also, trotz „gleicher“ Ergebnisse (und lediglich mit der Ausnahme der unbedeutenden, subjektiven, unterschiedlichen Bewertung der betreffenden Gruppen), unbegreiflich und widersinnig, wenn Fibiger (1997, III: 22-23) sich in seinen Bemerkungen im systematischen Teil dazu hinreißen läßt, zu behaupten: „Most if not all of the new nominal taxa published by Beck (1996) have to be rejected“.

Es ist geradezu bezeichnend, daß Fibiger (und Lafontaine, 1997) auf der anderen Seite dann selbst, bei Pseudochropleura Beck, die keineswegs ein nomen nudum darstellt, da jeder aufgrund der Angaben (Beck, 1991: 182) ersehen kann, worum es sich handelt (und nichts anderes ist der Sinn der entsprechenden Empfehlung des „Code“), für musiva Hübner, sowie für flammatra D. & S., nebst den jeweils verwandten Arten, je eine eigene Gattung aufstellt, obwohl beide in den von Fibiger so hoch angesetzten und (für Pseudochropleura) so charakteristischen Genitalstrukturen praktisch übereinstimmen.

Es ist im übrigen eine erhebliche Diskrepanz im Verhalten der gegenwärtigen Genital-Systematiker, dass sie bei der Aufstellung neuer Arten und Unterarten sehr großzügig sind, wogegen sie bei der Neuaufstellung höherer, systematischer Einheiten sehr zurückhaltend sind. Soweit diese Taxa (neue Arten) berechtigt sind, kann dieser Methode zugestimmt werden, da sie im Einklang mit dem zunehmenden Differenzierungsprozess innerhalb der Evolution im Einklang steht. Das Gleiche muss dann aber auch für die höhere Klassifizierung gelten (die ja von der Evolution nicht abgekoppelt werden kann) und so ist, insgesamt, die Aufstellung vieler neuer Subgenera, Genera und Subtribus usw. von Beck nur eine logische Konsequenz.

Die gelegentlichen Hinweise Fibigers auf phylogenetische Erkenntnisse (dem heute so großen Schlagwort für das einseitige, systematische Vorgehen der betreffenden Systematiker) zur Rechtfertigung seiner ablehnenden Haltung gegenüber den taxonomischen Änderungen Becks entbehren jeder Grundlage, wie die folgenden Ausführungen beweisen (siehe auch den Kommentar zu Chorizagrotis Smith und zu Rhyacia Hübner sensu Fibiger).

In „Systematische Liste der Noctuidae Europas“, Fibiger & Hacker (1991 (1990): 8) hatten die Autoren die bisherige Anordnung im System dieser Familie (Hartig & Heinicke, 1973) „auf den Kopf gestellt“, um so mit der phylogenetisch am geringsten differenzierten Unterfamilie (Herminiinae) zu beginnen und der am höchsten differenzierten (Noctuinae) zu enden. Danach war bei den Noctuinae, Agrotini die Reihenfolge, grob: ... Euxoa, Dichagyris, ... Agrotis (bei Hacker, 1990, in Esperiana 1: 97-105, modifiziert: Dichagyris - Euxoa - Agrotis). Demgegenüber übernimmt Fibiger (1990, I) ohne irgendwelche Begründung die Anordnung der Noctuinae gemäß Hartig & Heinicke (1973) und trifft damit, zufällig, in der Grobgliederung Euxoa - Agrotis - Dichagyris ... Noctuini, eine Anordnung, die den phylogenetischen Überlegungen Becks (siehe unten und bei Noctuini sensu Beck) entspricht, nicht aber der Ansicht Fibigers (1997, III: 150), der die „Noctuini“ für ursprünglicher hält als die „Agrotini“.

Die Ausführungen Becks zeigen, daß die Euxoina die phylogenetisch älteste Gruppe der Noctuini sensu Beck (1960) darstellen; ihnen folgen die Agrotina und dann die Dichagyrina und schließlich die eigentlichen Noctuini sensu Beck (1996).

Die Ausführungen belegen somit, wie fruchtbar und berechtigt das Konzept Becks ist, auf der Basis der differenzierten Larvalornamentik und -morphologie, im Einklang mit dem Imaginalhabitus und der Genitalmorphologie, eine Neugliederung der Noctuidae durchzuführen.

Damit wird auch zum Ausdruck gebracht, dass an Stelle der nun schon lange anhaltenden Konfrontation ein Zusammengehen der „Imaginal“- und „Larval“systematiker sinnvoll ist, um die systematische Differenzierung entsprechender Tiergruppen (nicht nur der Noctuidae) zu erkennen und darzulegen, bevor phylogenetische Überlegungen einsetzen. Die betreffenden, imaginalsystematischen Entscheidungen für die Noctuini sensu Beck (Noctuinae sensu Fibiger et auct.) liegen auf der Hand, wenngleich sie gegenwärtig noch weitgehend mit der informellen, für die systematisch-phylogenetische Diskussion untauglichen Bezeichnung von „Artengruppen“ hinausgeschoben werden. Es ist unerklärlich, warum entsprechende nominelle Taxierungen, gemäß der taxonomisch-systematischen Begriffshierarchie, nicht vollzogen werden. Sollte es allein die Rivalität zwischen der Imaginal- und Larvalsystematik sein, ein versteckter Prioritätsanspruch der Imaginalsystematiker, die glauben, das alleinige Recht auf taxonomische Entscheidungen zu haben? Wie anders kann verstanden werden, dass Fibiger einerseits bei außerordentlich gravierenden, genitalmorphologischen Differenzen zögert, fällige taxonomische Entscheidungen zu treffen, andererseits aber keine Hemmungen hat, getroffene, (larval)systematische Entscheidungen mit dem unhaltbaren Hinweis „nomen nudum“ „zurückzupfeifen“, zu synonymisieren oder zu „Artengruppen“ zu deklarieren, um so zum Ausdruck zu bringen, dass die Imaginalsystematik das alleinige Sagen hat. So hat Fibiger (1997, III: 18-19) 13 neue Gattungs- und 18 Untergattungsbenennungen Becks als nomina nuda deklariert, wohingegen Hacker (1992, in Esperiana 3: 246-247) andererseits bereit war, nach imaginalmorphologischer Überprüfung gegebenfalls die betreffenden Taxa anzuerkennen. Inzwischen haben ein großer Teil der taxonomischen Änderungen Eingang in entsprechende systematische Verzeichnisse gefunden (für Spanien, Yela, 1992: 546-556; für Österreich, Huemer & Tarmann, 1993), obwohl deren detaillierte Begründung noch ausstand. Einfach, weil dem erfahrenen Lepidopterologen die entsprechenden Sachzwänge auf der Hand lagen. Fibiger wird also das Rad der diesbezüglichen Entwicklung nicht zurückdrehen können.

Das systematische Vorgehen Becks ist Ausdruck der großen Unzufriedenheit mit einem imaginalsystematisch geprägten System, das in vielen Details mit den Beobachtungen an Larven nicht im Einklang steht (vgl. Haggett, 1981). Dass diese Unzufriedenheit berechtigt ist, geht aus der auch von Fibiger vollzogenen Differenzierung der „Noctuinae sensu auct.“ hervor. Die Vertröstungen Fibigers für die überfällige, systematische Neugliederung von Rhyacia Hübner sensu Fibiger und Noctua Linnaeus sensu Fibiger (1997, III: 134 und 151) und weiterer „Gattungen“ der „ Noctuinae“ im Rahmen weltweiter Revisionen sind eine reine Augenwischerei. Nie hat die „Wissenschaft“ darauf gewartet, einen vollständigen Wissenstatbestand zu publizieren, stets sind Teilerkenntnisse der Anlass für eine spätere, größere Zusammenschau gewesen. Ein derartiges Verhalten, das ja nur den Imaginalsystematikern vorbehalten sein kann, da es den Larvalsystematikern am entsprechenden Material fehlt, ist nichts anderes als die Zementierung des imaginalsystematischen Primats. Dies verträgt sich in keiner Weise mit dem von Fibiger geforderten Geist auf Zusammenarbeit (mit der Larvalsystematik) einerseits (Fibiger, 1997, III: 13) und mit der „Verdammung“ nahezu aller von Beck aufgestellten Taxa.

Das nun vorliegende Gesamtwerk kann als ein später Beitrag zur Idee von Prof. Dr. Stammer, meinem Doktorvater, gesehen werden, bestehende imaginale Systeme mittels wissenschaftlicher Untersuchungen an anderen Ständen der betreffenden Lebewesen auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen, um so auf dem Weg zum Natürlichen System voranzukommen.